Das ZEIT PROJEKT von Erwin Wiegerling
41 Jahre, 2169 Exemplare der Wochenzeitung Die Zeit, hunderttausende Seiten Papier, mehr als eine Tonne Material. 18 zumeist randvoll mit Asche geschichtete Glaskuben in Metallwinkelkonstruktion. In drei Reihen aufeinandergestapelt. Über zwei Meter hoch und knapp fünf Meter lang. Erwin Wiegerling begann 1982 mit seinem ZEIT PROJEKT. Der 79-jährige gelernte Restaurator aus Benediktbeuern nimmt sich mit seinen Werkstätten im oberbayerischen Dorf Gaißach seit über 50 Jahren denkmalgeschützten Objekten an. Sowie seiner eigenen Kunst. Beständig auf der Suche nach neuen Materialien und Werkzeugen entstehen unter Verwendung von Naturmaterialien monumentale Arbeiten und Skulpturen sowie kleinformatige Werke oder dreidimensionale Landschaftsgemälde. Als »Brückenbauer und Grenzgänger«, als jemand der helfe „den Sinn der eigenen Existenz zu verorten“ wurde Wiegerling 2018 in der Laudatio bei der Vergabe des Kulturehrenbriefs des Landkreises Bad Tölz Wolfratshausen bezeichnet. Ob Palmrinde, Moos oder Gras, ob abstrakte Kompositionen aus leuchtenden Farben ohne Bindemittel oder teils figurativ anmutende Malereien. Als freischaffender Künstler seit Jahrzehnten unter dem Namen e.lin tätig, lässt sich Wiegerling kaum festlegen.
Auch sein ZEIT PROJEKT schafft einen offenen Referenz- und Assoziationsraum. Selbst wenn Wiegerlings gestapelte Kuben wie in Friedhofswände eingelassene Urnengräber anmuten so sind sie eben auch Genesis und nicht nur Exitus, auch Schöpfungsakt und nicht nur Vergänglichkeit. Die liturgische Bestattungsformel »Asche zu Asche« »Staub zu Staub« vermag dem ZEIT PROJEKT kaum habhaft zu werden, es ist weder rein als übergrosses Memento Mori noch als Autodafé zu verstehen. Selbstverständlich, der christliche Kontext ist nie fern, zumal sich Wiegerling in seiner Arbeit als Restaurator seit Jahrzehnten vornehmlich sakralen Objekten annimmt. Hier greift er indes zu kurz. Dafür interessiert den Künstler der Prozess zu viel, die Schichtungen, die Spuren und Strukturen, die sich ergeben, wenn man zehntausende Essays, Kommentare, Beiträge, Meldungen, Artikel, Interviews, Reportagen, Features, Fotos, Rezensionen, Kolumnen, Glossen und Streitgespräche dem Feuer anheimgibt und damit in einen anderen Zustand überführt. Ist Tradition nicht weniger, wie sie Thomas Morus einst umschrieben haben soll, das Halten der Asche sondern vielmehr das Weitergeben der Flamme? Was wenn Wirtschaft, Feuilleton, Politik, Wissen und Gesellschaft nicht mehr nur die Ressorts der Zeit definieren sondern vielmehr ein Einziges bilden, ganz so wie die Gesamtheit der Errungenschaften und Fehlbarkeiten einer letztlich aus Sternenstaub erschaffenen Menschheit? Freud und Leid, Krieg und Frieden. Kein »Entweder Oder« sondern ein »Sowohl als Auch«.
Mit seinem auf viele Jahrzehnte angelegten ZEIT PROJEKT befindet sich Wiegerling zudem in bester Gesellschaft. Der Künstler Roman Opalka begann 1965 auf Leinwände durchlaufende Zahlenreihen zu malen und kam bis zu seinem Tod 2011 auf die Ziffer 5.607.249. Eine in der Halberstadter Burchardikirche seit 2012 durchgehend erklingende Komposition von John Cage soll erst 2640 zu ihrem Ende kommen. Bogomir Eckers »Tropfsteinmaschine« wurde in der Hamburger Kunsthalle 1996 eingeweiht. Sie soll dort ein halbes Jahrtausend installiert bleiben. In den Kuben schichtet Wiegerling derweil sorgsam die unterschiedlich grau gebrannten Aschen, wobei die verschiedene Färbung der Ablagerungen durch unterschiedlich lange Brenngrade entsteht, die fast weiße, mittelgraue und dunkelgraue Farbtöne erzeugen. Als „Schnee von gestern“ bezeichnet der Künstler die hellere, am längsten gebrannte Asche,
Wiegerlings ZEIT PROJEKT präsentiert auch zwei Kuben mit dutzenden gestapelten Ausgaben der Zeit. Ohne sie fehlte die Referenz. Sein ZEIT PROJEKT ist eben auch ganz buchstäblich zu verstehen. Als aufmerksamer Leser der hat er immer wieder Collagen aus Beiträgen der Wochenzeitung geschaffen, seine »ZEIT- Blütenbilder«. Und bei einer Ausstellung Wiegerlings im kleinen Arget inmitten der nahe seiner Ateliers gelegenen Gemeinde Sauerlach konnte die aufmerksame Besucherin vor ein paar Jahren eine kleine Papierarbeit entdecken, auf der sich der Satz fand: »Wer keine Zeit hat, ist ärmer als ein Bettler.« Fünf Kuben des ZEIT PROJEKTS sind noch leer. Ein Behältnis birgt Raum für die Asche aus etwa fünf Jahren Zeit-Ausgaben. Der Künstler scheint optimistisch hinsichtlich des Fortbestands der Papierversion der Wochenzeitung – vor allem aber was sein eigenes Lebensalter anbelangt. Der Abschluss seines ZEIT PROJEKTS fällt mit Wiegerlings 100. Geburtstag zusammen.
Prof. Dr. Thomas Girst
(Autor, u. a. von »Alle Zeit der Welt«, Hanser)
Das ZEIT PROJEKT von Erwin Wiegerling
41 Jahre, 2169 Exemplare der Wochenzeitung Die Zeit, hunderttausende Seiten Papier, mehr als eine Tonne Material. 18 zumeist randvoll mit Asche geschichtete Glaskuben in Metallwinkelkonstruktion. In drei Reihen aufeinandergestapelt. Über zwei Meter hoch und knapp fünf Meter lang. Erwin Wiegerling begann 1982 mit seinem ZEIT PROJEKT. Der 79-jährige gelernte Restaurator aus Benediktbeuern nimmt sich mit seinen Werkstätten im oberbayerischen Dorf Gaißach seit über 50 Jahren denkmalgeschützten Objekten an. Sowie seiner eigenen Kunst. Beständig auf der Suche nach neuen Materialien und Werkzeugen entstehen unter Verwendung von Naturmaterialien monumentale Arbeiten und Skulpturen sowie kleinformatige Werke oder dreidimensionale Landschaftsgemälde. Als »Brückenbauer und Grenzgänger«, als jemand der helfe „den Sinn der eigenen Existenz zu verorten“ wurde Wiegerling 2018 in der Laudatio bei der Vergabe des Kulturehrenbriefs des Landkreises Bad Tölz Wolfratshausen bezeichnet. Ob Palmrinde, Moos oder Gras, ob abstrakte Kompositionen aus leuchtenden Farben ohne Bindemittel oder teils figurativ anmutende Malereien. Als freischaffender Künstler seit Jahrzehnten unter dem Namen e.lin tätig, lässt sich Wiegerling kaum festlegen.
Auch sein ZEIT PROJEKT schafft einen offenen Referenz- und Assoziationsraum. Selbst wenn Wiegerlings gestapelte Kuben wie in Friedhofswände eingelassene Urnengräber anmuten so sind sie eben auch Genesis und nicht nur Exitus, auch Schöpfungsakt und nicht nur Vergänglichkeit. Die liturgische Bestattungsformel »Asche zu Asche« »Staub zu Staub« vermag dem ZEIT PROJEKT kaum habhaft zu werden, es ist weder rein als übergrosses Memento Mori noch als Autodafé zu verstehen. Selbstverständlich, der christliche Kontext ist nie fern, zumal sich Wiegerling in seiner Arbeit als Restaurator seit Jahrzehnten vornehmlich sakralen Objekten annimmt. Hier greift er indes zu kurz. Dafür interessiert den Künstler der Prozess zu viel, die Schichtungen, die Spuren und Strukturen, die sich ergeben, wenn man zehntausende Essays, Kommentare, Beiträge, Meldungen, Artikel, Interviews, Reportagen, Features, Fotos, Rezensionen, Kolumnen, Glossen und Streitgespräche dem Feuer anheimgibt und damit in einen anderen Zustand überführt. Ist Tradition nicht weniger, wie sie Thomas Morus einst umschrieben haben soll, das Halten der Asche sondern vielmehr das Weitergeben der Flamme? Was wenn Wirtschaft, Feuilleton, Politik, Wissen und Gesellschaft nicht mehr nur die Ressorts der Zeit definieren sondern vielmehr ein Einziges bilden, ganz so wie die Gesamtheit der Errungenschaften und Fehlbarkeiten einer letztlich aus Sternenstaub erschaffenen Menschheit? Freud und Leid, Krieg und Frieden. Kein »Entweder Oder« sondern ein »Sowohl als Auch«.
Mit seinem auf viele Jahrzehnte angelegten ZEIT PROJEKT befindet sich Wiegerling zudem in bester Gesellschaft. Der Künstler Roman Opalka begann 1965 auf Leinwände durchlaufende Zahlenreihen zu malen und kam bis zu seinem Tod 2011 auf die Ziffer 5.607.249. Eine in der Halberstadter Burchardikirche seit 2012 durchgehend erklingende Komposition von John Cage soll erst 2640 zu ihrem Ende kommen. Bogomir Eckers »Tropfsteinmaschine« wurde in der Hamburger Kunsthalle 1996 eingeweiht. Sie soll dort ein halbes Jahrtausend installiert bleiben. In den Kuben schichtet Wiegerling derweil sorgsam die unterschiedlich grau gebrannten Aschen, wobei die verschiedene Färbung der Ablagerungen durch unterschiedlich lange Brenngrade entsteht, die fast weiße, mittelgraue und dunkelgraue Farbtöne erzeugen. Als „Schnee von gestern“ bezeichnet der Künstler die hellere, am längsten gebrannte Asche,
Wiegerlings ZEIT PROJEKT präsentiert auch zwei Kuben mit dutzenden gestapelten Ausgaben der Zeit. Ohne sie fehlte die Referenz. Sein ZEIT PROJEKT ist eben auch ganz buchstäblich zu verstehen. Als aufmerksamer Leser der hat er immer wieder Collagen aus Beiträgen der Wochenzeitung geschaffen, seine »ZEIT- Blütenbilder«. Und bei einer Ausstellung Wiegerlings im kleinen Arget inmitten der nahe seiner Ateliers gelegenen Gemeinde Sauerlach konnte die aufmerksame Besucherin vor ein paar Jahren eine kleine Papierarbeit entdecken, auf der sich der Satz fand: »Wer keine Zeit hat, ist ärmer als ein Bettler.« Fünf Kuben des ZEIT PROJEKTS sind noch leer. Ein Behältnis birgt Raum für die Asche aus etwa fünf Jahren Zeit-Ausgaben. Der Künstler scheint optimistisch hinsichtlich des Fortbestands der Papierversion der Wochenzeitung – vor allem aber was sein eigenes Lebensalter anbelangt. Der Abschluss seines ZEIT PROJEKTS fällt mit Wiegerlings 100. Geburtstag zusammen.
Prof. Dr. Thomas Girst
(Autor, u. a. von »Alle Zeit der Welt«, Hanser)